Das Erdbeben von Lissabon mit seinen 60.000 Toten ist bis heute die folgenreichste Naturkatastrophe, die Europa in der Neuzeit traf. Die Erdstöße, der folgende Tsunami und die anschließenden tagelangen Brände zerstörten nicht nur die damals reichste Stadt des Kontinents, sie brachten auch das christliche Weltbild vieler Menschen ins Wanken. In Portugal wird das Erdbeben zum Auslöser grundlegender Modernisierungsschritte. In Europa befördert es die Bestrebungen, die Phänomene der Welt ohne den Rückgriff auf Gott, auf menschliche Schuld und göttliche Strafe zu erklären. Der Aufstieg des säkularen Weltbildes ist mit dem Untergang Lissabons untrennbar verbunden. In ganz Europa suchten Intellektuelle – darunter Kant, Voltaire, Rousseau – nach einer Erklärung für die Katastrophe, die am 1. November 1755 über Lissabon hereinbrach. Die Vorstellung, dass ein gütiger und wohlwollender Schöpfer die Welt nach Naturgesetzen eingerichtet hat, die sich der menschlichen Vernunft erschließen, war in Frage gestellt. Der Fortschrittsoptimismus der frühen Aufklärung war tief erschüttert. Gerhard Streminger entwirft ein Panorama Lissabons am Vorabend der Katastrophe. Er begibt sich in die durch Sklavenhandel und koloniale Ausbeutung reich gewordene Hauptstadt eines kulturell rückständigen Landes, in dem auch Mitte des 18. Jahrhunderts noch häufig die Scheiterhaufen brennen. Er lässt uns erleben, wie die portugiesische Metropole und mit ihr der Glaube an einen gerechten Gott untergehen.