Titel
Die Erfindung des jüdischen Volkes
Untertitel
Israels Gründungsmythos auf dem Prüfstand
2011
Ausstattung
506 Seiten, kartoniert
Jetzt auch als Taschenbuch Einen wichtigen und spannenden Beitrag zur Entmythologisierung der jüdischen Religion leistet Shlomo Sand, der an der Universität Tel Aviv Geschichte lehrt. Die allgemein verbreitete Darstellung der jüdischen Geschichte besagt, dass nach der Zerstörung des Tempels zu Jerusalem im Jahr 70 u.Z. (bzw. nach dem Bar-Kochba-Aufstand im zweiten Jahrhundert oder nach dem Aufkommen des Islam) die Juden als "Volk" aus ihrer angestammten Heimat vertrieben und über die Welt verstreut wurden und heute, nach bald 2000 Jahren Diaspora, in ihr Ursprungsgebiet zurückkehren. Shlomo Sand zeigt jedoch, dass sich diese Vertreibung historisch nicht nachweisen lässt. Das führt zu zwei Fragen" Was wurde dann aus den Juden im "Heiligen Land"? Und wo kommen die Juden außerhalb Palästinas her? Für die Juden im Nahen Osten lautet die Antwort, dass ein Teil Christen wurde, ein anderer Teil später zum Islam übertrat (wer den islamischen Glauben annahm, brauchte keine Steuern zu zahlen) und nur eine Minderheit die ursprüngliche Religion beibehielt. Das wenig bekannte Faktum, dass das Judentum teilweise in seiner Geschichte eine missionierende Religion war, erklärt plausibel das Vorkommen der Juden überall sonst. Die Hasmonäer (2. Jahrhundert v.u.Z.) etwa bekehrten ihre Nachbarvölker mit dem Schwert zum Judentum, es gab mehrere jüdische Königreiche außerhalb "Israels", die durch Mission und Glaubensübertritt zustande kamen, das Reich der Chasaren (nördlich des Kaukasus) ist ein Beispiel dafür, dass politische Machthaber aus geostrategischen Gründen zum Judentum konvertierten (8. und 9. Jahrhundert) und viele der Untertanen diesem Schritt der Oberschicht folgten. Wahrscheinlich sind die meisten der Ostjuden Nachfahren dieser chasarischen Konvertiten. Die Idee, im Judentum ein "Volk" zu sehen, ist nach Shlomo Sand eine Erfindung des 19. Jahrhunderts. Das Wort "Volk" (oder ähnliche Begriffe wie "Rasse", Nation etc.) ist zwar älter, aber seine "moderne" Bedeutung bekam es erst, als Historiker begannen, eigene Ursprungsmythen zu generieren. In Frankreich ("Gallier"), Deutschland ("Hermann der Cherusker"), Polen etc. war das der Fall, und auch jüdisch-zionistische Gelehrte beteiligten sich an dieser Ursprungsfindung. Ausführlich zeigt Sand, wie diese nationale Mythenbildung vor sich ging und auf welchen Voraussetzungen sie beruhte. Das Judentum, so Sands Fazit, ist eine monotheistische Religion wie andere monotheistische Religionen auch und kein "Volk". Die Wahrscheinlichkeit, dass die heutigen "arabischen Palästinenser" direkte Nachfahren der damaligen Juden sind, ist zwar gering (immer gab es "Vermischungen"), aber doch um Größenordnungen wahrscheinlicher als für die "Heimkehrer" aus der Diaspora. Shlomo Sands Thesen beruhen auf keinen eigenständigen und neuen Erkenntnissen, sondern auf einer Auswertung und Neuanordnung von Fakten, die jüdisch-zionistische Historiker selbst erarbeiteten, heute aber nicht mehr als politisch-ideologisch opportun gelten. Erschreckend ist, dass inzwischen an israelischen Universitäten nach Genen geforscht wird, anhand deren sich Juden von Nichtjuden unterscheiden sollen. Auch dazu gibt es einem Abschnitt im vorliegenden Buch. Shlomo Sands Erfindung des jüdischen Volkes ist eine spannende und aufklärende Lektüre, die neues Licht auf den Konflikt im Nahen Osten wirft. Das Buch erschien zuerst auf hebräisch und wurde in Israel (trotz aller Anfeindungen) zu einem Bestseller, der Autor ein häufigen Gast in Talkshows. Aber auch in Frankreich und den USA sorgte es für Furore. B. Reinsdorf