Untertitel
Was wir von traditionellen Gesellschaften lernen können
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Ausstattung
586 Seiten, Abbildungen, kartoniert
Die modernen Industriegesellschaften, so schreibt Jared Diamond im Schlusskapitel seines Buches, haben trotz ihres Entwicklungsvorsprungs im wirtschaftlichen, technischen und militärischen Bereich "keine überlegenen Methoden zur Kindererziehung, zur Behandlung älterer Menschen, zur Beilegung von Meinungsverschiedenheiten, zur Vermeidung nicht übertragbarer Krankheiten und zur Lösung anderer gesellschaftlicher Probleme" hervorgebracht. Wer daraus schließt, dass der bekannte Anthropologe und Evolutionsbiologe in Vermächtnis eine Lobeshymne auf das einfache, gute Leben in Stammesgesellschaften singt, und eine romantische Kulturkritik erwartet, kann sich die Lektüre sparen. Diamond hat bei seinen zahllosen Forschungsreisen vor allem in Neuguinea authentische Erfahrungen mit traditionellen Gesellschaften gesammelt, die keinen Platz für Illusionen lassen. Das betrifft etwa die Kriegführung oder den Umgang mit alten Menschen, vor allem alten Frauen (S. 251-254). Trotzdem stellt er fest, dass manche Probleme in traditionellen Gesellschaften kaum existieren (Herzerkrankungen, Einsamkeit) und manche Fähigkeiten ausgeprägter sind als in modernen Gesellschaften (Mehrsprachigkeit). In Vermächtnis kombiniert Diamonds eloquent vorgetragene Berichte seiner Begegnungen mit traditionellen Gesellschaften mit allgemeineren anthropologischen Darstellungen. Dabei vergleicht er die Lebens- und Verhaltensweisen der Neuguineer, !Kung (südliches Afrika) oder Ache (Paraguay) mit der in westlichen Industriegesellschaften vorherrschenden Lebensweise. Er untersucht den Umgang mit Fremden und Händlern, Konfliktlösungsmodelle einschließlich Krieg, Kindererziehung, die Stellung alter Menschen, die Einschätzung von Gefahren, Religion, Sprache und Ernährung. Anregungen, die "westliche" Lebensweise zu überdenken, findet Diamond in fast allen behandelten Bereichen; am stärksten hat ihn wohl die Erziehung der Kinder zur Selbständigkeit beeindruckt. Was aus dem "Vermächtnis" der traditionellen Gesellschaften tatsächlich für die Individuen oder das Gemeinwesen an Nutzen gezogen werden kann, erörtert Diamond nur sehr oberflächlich im letzten Kapitel. Aber Informationen, um eine solche Debatte sinnvoll führen zu können, hat der Pulitzer-Preis-Träger auf über 500 Seiten zusammengetragen. G. Reinsdorf